Edmund A. Spindler
Schön zu lesen sind die vier Berichte über Edvard Munch, die Stanislaw Przybyszewski im März 1894 im S. Fischer Verlag (Berlin) als Buch herausgegeben hat. Sie gehören zu den ersten Würdigungen, die Edvard Munch (1863-1944) in Deutschland erhalten hat und somit zu den Ursprüngen einer neuen Kunstkritik über die moderne Malerei. Mehr noch: Das Buch leitet einen Perspektivenwechsel ein und sorgt dafür, dass die Werke von Munch für ein neues Zeitalter stehen. Dabei stellt der Herausgeber schon im Vorwort fest, dass die Beiträge „keine Lobhudelei für den Künstler“ und „keine Reklame“ für Munch seien, sondern eine Darstellung eines „neuen Kunstideals“. Damit ist das knapp 100 Seiten starke Werk mit den vier geistreichen Studien von Munchs Zeitgenossen doppelt interessant und für jeden Munch-Fan eine Bereicherung.
Inhalt
Als Reprint liegen die Originaltexte der ersten deutschen Munch-Propheten mit ihren verständlichen und gut nachvollziehbaren Wertungen bei Hansebooks (www.hansebooks.com bzw. www.hugendubel.de/de/search/advanced?authors=edvard%20munch) vor. Die vier Autoren kommen u.a. zu folgendem Befund:
(1) Stanislaw Przybyszewski (1868-1927; polnischer Schriftsteller, der Architektur und Medizin in Berlin studierte und lange als Redakteur tätig war und zur Berliner Bohème gehörte) geht davon aus, dass Munch wie kein anderer die Moderne prägt und ein „Naturalist seelischer Phänomene par excellence“ (S. 26) sei. Für ihn ist er ein „Maler des psychischen Gestaltungsdranges von Gefühlsimpulsen, der Maler des psychischen Überschwanges“ (S. 27).
(2) Franz Servaes (1862-1947; deutscher Journalist, Kritiker und Schriftsteller, der Kunstgeschichte und Germanistik studierte und in Philosophie promovierte) geht auf Munchs Naturverständnis und auf seine Malweise ein. Er stellt u.a. fest: Munch war ein „feinspüriger Porträtist“ (S. 54) und er liefert „Dünger für die Zukunft“ (S. 56), worin er Munchs kunsthistorische Bedeutung sieht.
(3) Willy Pastor (1867-1933; deutscher Kunsthistoriker, Kunst- und Kulturkritiker und völkischer Schriftsteller) war mit einer Norwegerin verheiratet und deshalb Munchs Kunst sehr zugetan. Er vergleicht Munch mit Rubens und sieht Munch auf dem richtigen Wege „wandeln“ (S. 74).
(4) Julius Meier-Graefe (1867-1935; deutscher Kunsthistoriker und Schriftsteller, studierte Ingenieurwissenschaften und befasste sich ab 1890 mit kunsthistorischen Studien und gründete 1895 die Zeitschrift „Pan“) war einer der ersten deutschen Munch-Fans, die sich inhaltlich mit Edvard Munch beschäftigten und ihn lange förderten. In seinem Buchbeitrag spricht er von „grandiosen Darstellungen elementarer Seelenstimmungen“ (S. 90) und bezeichnet Munch als größten und einzigartigen Maler.

Fazit
Przybyszewski hat mit seinem Sammelband und der geschickten Auswahl von Autoren schon früh in Deutschland das Verständnis für Munchs Kunst geweckt und auf die „subtilsten und feinsten Seelenregungen“ in den Bildern von Edvard Munch hingewiesen. Ihm ist es zu verdanken, dass die Sichtweise von Munch zunehmend akzeptiert wurde und die „Seelenmalerei“ auch heute noch aktuell ist, wie dieses weitsichtige Zitat aus dem Vorwort zeigt: „Alle die Ideenkeime, die in den Bildern Munch‘s zur Darstellung gelangen, ruhen fast in jedem differenzierten Menschen; die Welt- und Lebensanschauung, aus der sie entsprossen sind, ist die Welt- und Lebensanschauung unserer Zeit.“. Diese Auffassung gilt heute noch und belegt, dass Munch voll im Trend liegt!
Stanislaw Przybyszewski (Hrsg.): Das Werk des Edvard Munch. Vier Beiträge. Berlin: S. Fischer Verlag, 1894. Reprint von Hansebooks, ISBN 978-3-74342-455-5