Mythos Munch – Ein Interview

Dr. Nils Ohlsen am Oslofjord, 10. Juni 2022, Foto: Spindler

Interview mit Dr. Nils Ohlsen (*1967, Oldenburg) seit 2018 Direktor des Lillehammer Kunstmuseums in Norwegen

In Ihrem wunderschönen Büchlein „Edvard Munch“, das seit Oktober 2021 im Wienand Verlag vorliegt, gehen Sie sehr locker und wie selbstverständlich auf das Munch-Thema ein. Wie sind Sie beruflich auf Munch gestoßen?

Bei mir ging es in der Jugend schon früh los, als ich die ersten Bilder von Edvard Munch gesehen habe. Konkret wurde es mit meiner Doktorarbeit über das Thema „Skandinavische Interieurmalerei zur Zeit Carl Larssons“, die ich in Stockholm geschrieben habe. Dabei habe ich mich auch intensiv mit Edvard Munch befasst, in dessen Werk das Interieur ja eine wichtige Rolle spielt. Meine Liebe zu den skandinavischen Sprachen hat familiäre Gründe. Als Kind habe ich die Sommerferien in Schweden bei Verwandten verbracht.

Später war ich Volontär, Kurator und schließlich Wissenschaftlicher Direktor an der Kunsthalle Emden, wo ich 2004/05 Co-Kurator einer großen Munch-Ausstellung war. Die Ausstellung war ein riesengroßer Erfolg und wurde u.a. von Statoil Deutschland (heute: Equinor) gesponsert. In allgemeiner Erinnerung ist die gelbe Munch-Villa geblieben, deren Fassade wir in Originalgröße am Museumseingang anlässlich der Ausstellung errichtet haben und die bei den mehr als 125.000 Besuchern neben den 64 Leihgaben aus dem Munch-Museum für Furore sorgte.

2010 bekam ich die Stelle des Abteilungsdirektors für Alte Meister und Moderne Kunst am Nationalmuseum, und damit die Leitung der Nationalgalerie in Oslo übertragen. Damit war ich u.a. für die Betreuung der 58 ikonischen Munch-Bilder in der Nationalgalerie zuständig. Seit dieser Zeit wohnen meine Frau und ich in Norwegen.

2013 kam dann die große Jubiläumsausstellung zum 150. Geburtstag von Edvard Munch „Munch 150“. Ich war einer der vier Kuratoren dieser Jahrhundert-Schau. In dieser Zeit wurde auch die Datenbank https://emunch.no/welcome.xhtml mit Munchs schriftlichem Nachlass veröffentlicht, die heute über die Homepage des Munch-Museums zugänglich ist und den Zugang zu den Original-Unterlagen des Künstlers und seinen Werken erheblich vereinfacht. D.h. meine Begeisterung an Munch ging immer weiter und führte zu verschiedenen Vorträgen und Texten , wie z.B. „Munch und Beckmann“, „Munch und Per Kirkeby“, und schließlich zum erwähnten Büchlein „Edvard Munch“.

Was genau fasziniert Sie an Edvard Munch?

Man kann bei ihm ständig etwas Neues entdecken; sein Werk ist voller kreativer Überraschungen auch und gerade, wenn er Motive wiederholt. Munch ist dann wie ein guter Jazz-Musiker, dessen verschiedene Interpretationen eines Motivs man nicht müde wird.

Warum sieht man Munch nie lächelnd (weder bei den 60 Selbstporträts, noch auf den überlieferten Fotos)?

Munch ist ein Mann seiner Zeit. Er sieht sich als Maler-Philosoph und neigt zur Selbstinszenierung, an der er intensiv gearbeitet hat. Es gehört zum Mythos eines Künstlers, damals wie heute, eine bestimmte gleichbleibende Haltung zu vermitteln. Zum Zeitgeist und dem selbst erschaffenen Munch-Mythos gehört, dass er als einsamer Kämpfer unbeirrt seinen Weg verfolgt. Dabei macht er keine Witze, kann aber durchaus ironisch sein, wie einige seiner späten Selbstporträts zeigen.

Hinzu kommt: Sein Werk ist geprägt von einem Ich-Erzähler, der seine Beobachtungen der Welt und sich selber schonungslos und somit möglichst authentisch in seine Kunst fließen lässt. Hier drängt sich der Vergleich mit dem Wiener Arzt und Dramatiker Arthur Schnitzler (1862-1931) auf, der ja fast gleichzeitig gelebt hat. Von ihm wissen wir, dass er als einer der ersten Autoren in seinen Werken konsequent aus einer Ich-Perspektive von seinem Inneren erzählt und für den die Psychologie der weiblichen Figuren seiner Werke immer eine große Rolle spielten. Dies alles trifft auch für Munch zu, der mit seiner ernsten Haltung seine Distanz zur Gesellschaft stets unterstreicht.

Sie sehen Munch als „Geburtshelfer des Expressionismus“. Wie kann man seinen „markanten Stil“ (wie es Karl Ove Knausgard sieht) definieren und einordnen?

Ja, es gibt einen eigenen Munch-Stil, oder genauer: viele eigene Munch-Stile, die aus dem eigenen Ich heraus ein Ganzes bilden. Das Innere im Äußeren zu sehen war seine Stärke und prägt seine Bilder.

Sein großes Thema ist das moderne Individuum mit all seinen Emotionen. Abstraktion um ihrer selbst willen war ihm hingegen fremd. Munch ist ein Menschenmaler – und dabei spielte es kaum eine Rolle, welchen Stil er verfolgt, sondern wie er seinen ersten Eindruck am unmittelbasten auf die Leinwand bringen konnte. Insofern kann man Munchs Stil besser als eine „Haltung“ bezeichnen. Eine Haltung der Welt gegenüber, die von Neugier und der Suche nach dem Authentischen geprägt ist. Haltung ist der bessere Ausdruck, weil ein Stil auf etwas Formales abzielt und die Munch-Haltung vor allem durch den Inhalt und die Struktur seiner Werke geprägt ist. Sein Anliegen, das menschliche Wesen als Thema zu untersuchen ist heute aktueller denn je! Seine Themen sind zeitlos, man denke nur an das Alleinsein, ein Phänomen, das uns alle beschäftigt.

Das (Liebes-)Verhältnis zwischen Mann und Frau ist für Munch ein zentrales Thema. Wie interpretieren Sie seinen Geschlechterkonflikt?

Der Geschlechterkonflikt ist das große Thema seiner Zeit und auch für Munch zentral. Die neue Rolle der Frau in der damaligen Gesellschaft, deren Doppelmoral und der Typus der Femme fatale sind Themen, die ihn immer wieder reizten. Insofern ist er ein Kind seiner Generation. Aber seine Werke zeigen auch erstaunlich viel Einfühlungsvermögen in die Psychologie der Frauen, die er malte. Ja man kann Munch in manchen Werken geradezu als Feminist bezeichnen.

1902 kam nach der „Drøbaker Komödie“ das „Drama“ in Åsgårdstrand, bei dem Munch durch einen Pistolenschuss an der linken Hand verletzt wurde. Weiß man, wer auf ihn geschossen hat?

Wer den Schuss abgegeben hat, lässt sich nicht mehr nachweisen. Vielleicht hat er sich selbst in die Hand geschossen. Auf jeden Fall hat die Verletzung mit dem schwierigen Verhältnis zwischen Mann (Edvard Munch) und Frau (Tulla Larsen) zu tun, ein Verhältnis, das für ihn mit diesem Schuss ein vorläufiges Ende fand. Sicher ist aber auch, dass er mit diesem Schuss am eigenen Mythos des genialen Künstlers baute, der sich nicht binden kann. Letztendlich ist es nicht so wichtig zu wissen, wer den Schuss abgegeben hat (Munch oder Larsen), sondern was Munch in der Folgezeit daraus für seine Rolle als Künstler machte und welchen Niederschlag das Geschehnis in seiner Kunst fand.

Wie beurteilen Sie die Forschungsthemen bei Munch? Oder anders gefragt: Was ist wichtiger, Ausstellungen, Kommunikation oder Forschungen bei Munch?

Am besten ist es, wenn alles Hand in Hand geht. Ausstellungen zu bestimmten Themen sind wichtig, um neue Zielgruppen zu erreichen. Neue Ausstellungen setzen allerdings neue Forschungsfragen voraus und diese ändern sich von Generation zu Generation. Es ist wichtig, Munchs Kunst immer wieder zu aktualisieren. Neuerdings geht man vom Einzelwerk weg und stellt Bezüge nach aussen her. Die Rezeption seiner Kunst, die Frage nach seiner nationalen Verbundenheit oder Verbindungen seiner Kunst zu Philosophen, Autoren oder anderen Künstlern seiner Zeit sind wichtig für die heutige Forschung. Interessant ist auch Munchs Naturbezug. Hier ist noch einiges zu erforschen. Die Natur ist für Munch oft die Bühne seiner Figuren, aber es gibt auch viele Werke die die Natur allein als Thema zeigen. Munch hat den Naturbegriff oft auch in seinen Schriften benutzt, so sagt er etwa, dass Alles was er macht, aus der Natur kommt

Würden Sie Munch als „Ökohumanist“ bezeichnen?

Munch konnte die Klimakatastrophe nicht vorhersehen und er hat sich auch nicht mit Umweltschutz beschäftigt. Dennoch wäre eine Munch-Ausstellung nur über seine Landschaften und Natur-Bilder sehr spannend. Das monumentale Bild „Die Sonne“ könnte dabei eine zentrale Rolle spielen. Seine ganzheitliche Geisteshaltung spricht dafür, ihn als Humanisten zu bezeichnen. Aber ein erklärter Ökohumanist war er nicht, obwohl ihn die Verbindung zwischen Mensch und Universum sehr interessiert hat. Der Begriff Ökohumanist eignet sich aber sehr gut als Aufhänger für eine Diskussion über das heute so wichtige Thema im Hinblick auf Munch.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft, wenn Sie an Munch denken? Ist Munch ein „Programm“, wie Curt Glaser schon früh vorhersagte?

Munch ist eigentlich ein Kontinent oder ein Universum mit vielen Fragen, die auch für uns heute sehr aktuell sind. Glaubwürdigkeit ist in seiner Kunst sehr wichtig und diese Wirkung wird er sicher auch behalten. Er sollte deshalb in ein Schulpensum aufgenommen und in der Bildung zum Thema gemacht werden. Wichtig ist die Aktualisierung seiner Ansichten und die Suche nach neuen Perspektiven auf sein Werk. Er ist ein zeitloser Spiegel für Ängste und Hoffnungen, die wir auch heute haben. Deshalb ist es gut, dass das Munch-Museum kein Tempel oder Mausoleum ist, sondern ein Museum, das Munch immer wieder in neue Kontexte setzt und versucht, diese zu vermitteln. Hierbei könnte auch das Munch-Netzwerk eine Rolle übernehmen und dazu beitragen, dass neue Treffpunkte entstehen, in denen Munchs Kunst diskutiert wird, zum Beispiel als „Deutsche Freunde des Munch-Museums“.

Ein nachhaltiges Interesse für Munch kann man mit guter Kommunikation erzeugen, wozu die schon erwähnte Datenbank hervorragend geeignet ist. Diese digitale Vermittlung erleichtert Vieles und sie ist zudem äußerst demokratisch.

Ist Kunst für Sie eine Art Revolution, eine Befreiung von Lebensängsten, wie man sie bei Munch beobachten kann?

Munch zeigt mit seinen Werken und Texten auch, dass Kunst eine therapeutische Wirkung haben kann. Das Reflektieren durch künstlerische Aktivität kann Leiden mindern; Kreativität kann helfen zu heilen. Munch gibt dazu eine gute Inspiration. Er ermuntert uns, unsere eigene Kreativität zu nutzen, um einen anderen Blick auf die Welt zu öffnen.

Ganz herzlichen Dank für das Interview, Ihre Zeit, die Sie sich dafür genommen haben und für die berauschende Landschaft, in der wir uns trafen.

Das Interview „Mythos Munch“ führte Edmund A. Spindler am 10. Juni 2022 auf Nesodden, einer Halbinsel südlich von Oslo, wo der sportlich aktive Kunst-Wissenschaftler Dr. Nils Ohlsen mit seiner Frau wohnt.