Edmund A. Spindler, 13.06.2022
Tracey Emin (*1963) ist eine britische Künstlerin, die gerne provoziert und selbstbewusst auftritt. Sie ist eine Meisterin der Selbstentblößung und hat für ihre Selbstdarstellung schon viele Auszeichnungen und Ehrungen, auch von Queen Elizabeth II, erhalten. Und von ihr stammt der Satz: „Munch ist mein Lieblingskünstler auf der ganzen Welt. Er ist einfühlsam, er ist emotional, und er ist einfach ein wirklich, wirklich fantastischer Maler.“ Damit gehört sie ohne Zweifel zu den Munch-Fans. Mehr noch: Sie versteht seine Bilder auf ihre eigene (weibliche) Art und kann sich mit Munch identifizieren. Ihr Blick auf Munchs Bilder ist jedoch oft schrill und bewusst einseitig. Hier nur zwei Beispiele:
(1) Für sie ist „Der Schrei“ weiblich und von einer Frau, die vergewaltigt wird oder Geburtswehen ausstehen muss, so ihre drastische und laute expressive Performance bei der Ausstellung „Edvard Munch. Im Dialog“ (vom 18. Februar bis 19. Juni 2022) in Wien in einem eigenen Raum.
(2) Für sie ist der „Blutwasserfall“, den Munch 1915/16 angesichts des Massakers im 1. Weltkrieg gemalt hat (und damit auf den sinnlosen Tod von blutenden Soldaten aufmerksam machen wollte), reinstes Menstruationsblut, das Munch zu schaffen macht.
Angesichts solcher kruden Interpretationen kommen bei mir Zweifel am Kunstverständnis auf.
Bei der Eröffnungsveranstaltung des neuen Munch-Museums in Oslo im Oktober 2021 war Tracey Emin mit einigen ihrer Arbeiten präsent. Ganze zwei Etagen hat man ihr dafür zur Verfügung gestellt. Schon damals habe ich mich gefragt, was diese Raumverschwendung bedeutet. Heute frage ich mich, was diese Skulptur von ihr bedeutet, die kürzlich am Munch-Museum aufgestellt wurde, und in welchem Zusammenhang sie zum Werk von Edvard Munch steht.
Es ist eine 9 m hohe monumentale Bronze-Skulptur einer „Mutter“, mit der sich Tracey Emin ein unübersehbares Denkmal für 20 Mio. norwegische Kronen erschaffen hat.
Die Skulptur ist schön platziert und ein Hingucker. Ob sie auch eine schöne Skulptur ist, muss bezweifelt werden. Die Ausführung von einem (vielleicht) genialen Modell, das sie für das Munch-Museum anfertigte, zu einer monströsen Skulptur ist in der Übertreibung der Dimensionen (z.B. bei den Füßen, die zu Hasenfüßen wurden) offensichtlich nicht gut gelungen. Obwohl Tracey Emin mit der Skulptur den Geist von Munch beschwört („companion of the ghost of Munch“), muss man sich fragen, wo und wie dies sichtbar wird.
Mich hat die Skulptur nicht berührt und sie ist daher für mich auch keine Kunst, sondern teures Stadtmobiliar.
Der Bezug zu Munch wäre sicherlich mit einer zeitgemäßen Sternen- oder Sonnenskulptur besser zum Ausdruck gekommen, als mit dem Emin‘schen Mutterkomplex.
Mein Fazit: Tracey Emin hat mit der Skulptur ein eigenwilliges Werk geschaffen, das Edvard Munch nicht ganz gerecht wird, aber als (modernes und provokantes) Stadtmobiliar in Oslo toleriert werden kann. Hoffentlich wird die Skulptur nicht zur Altlast für das Munch-Museum. Als Muncherklärerin ist Tracey Emin sicher sehr originell, für mich aber – bis auf den oben erwähnten Satz – entbehrlich.