Edmund A. Spindler
„Der Name Edvard Munch bedeutet ein Programm.“ Mit diesem weitsichtigen „programmatischen“ Satz, der zweifellos auch eine Diagnose ist, beginnt Curt Glaser seine lesenswerte Abhandlung über Edvard Munch, die im Jahr 1922 in Berlin veröffentlicht wurde.
Damals war Munch 59 Jahre alt und lebte bereits in Ekely. Seine produktive Zeit in Deutschland war lange vorbei, aber seine Schaffensperiode noch lange nicht zu Ende. Insofern ist die Schrift von Glaser keine abgeschlossene Biografie über Edvard Munch, sondern eine gelungene, tiefgreifende Würdigung seiner außergewöhnlichen Kunst. Auf 208 Seiten geht er analytisch scharf, teilweise philosophisch, auf jeden Fall sehr klug und kunsthistorisch auf Munch und seine Werke ein.
Es ist ein bemerkenswertes Buch, weil neben dem Künstler Edvard Munch (1863-1944) auch die Kunst des Autors Curt Glaser hervorsticht. Dies rechtfertigt eine kurze Vorabinformation zum Autor selbst:
Curt Glaser (1879-1943) war ein umtriebiger Mensch jüdischen Glaubens mit Mehrfachbegabungen. Er studierte Medizin und Kunstgeschichte und promovierte erfolgreich (1902 und 1907) in beiden Fächern. Außerdem arbeitete er als Journalist, schrieb Kunstkritiken und er war beruflich im Kupferstichkabinett Berlin und in der Berliner Kunstbibliothek bis 1933 in führenden Positionen tätig. Von den Nazis wurde ihm die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen und er musste in die Schweiz und in die USA emigrieren.
Als Kunsthistoriker und als Sammler hatte er Munch in Berlin kennengelernt und ihn unterstützt. 1927 besuchte er sogar Munch auf Ekely in Oslo. Er beschreibt dieses letzte Treffen auf sehr schöne, persönlich-anrührende und kunsthistorisch interessante Weise in dem Buch „Zu Besuch bei Edvard Munch in Ekely – 1927“. Seine Bücher über Edvard Munch gehören zu den Essentials der edlen Munch-Bestecke in der Kunstszene.
Inhalt
Das Buch ist in 18 Kapitel gegliedert und reichlich bebildert. Gezeigt werden sowohl bekannte, als auch weniger bekannte Motive und Skizzen. Das Text-Bild-Verhältnis ist ansprechend gestaltet und inhaltlich passend zum Text.
Glaser geht auf den „Lebenslauf“ von Edvard Munch ein, verortet ihn in der Kunstgeschichte, stellt die „Jugendwerke“ vor und geht auf das „Schicksal des Künstlers“ ein. Dieses Kapitel vertieft die Autonomie und Eigenständigkeit der Kunst, die Glaser so wichtig sind und an mehreren Stellen im Buch angesprochen werden. Der Wert und die Bedeutung der Kunst sowie die Situation und die Position des Künstlers in der Gesellschaft gehören zu den wiederkehrenden Themen des Buches.
Weiter werden der „Fries des Lebens“ und die grafischen Arbeiten von Munch vorgestellt und die monumentalen „Universitätsbilder“ interpretiert. Abschließend geht er auf die (damals) „jüngsten Werke“ von Munch ein.
Das Buch eröffnet neue Perspektiven zum Verständnis von echter Kunst. Es hilft mit, sich für Munchs Bilder zu öffnen und ihm zu folgen. Und dies vor allem in der Epoche, die als „Moderne“ bezeichnet wird (zwischen 1880 und 1920).
Das Besondere an dem Buch ist das ganzheitliche Herangehen an die Kunst und die deduktive Betrachtung des Künstlers. Hiermit wird er Edvard Munch in hohem Maße gerecht.
Für mich interessant und neu sind die Bezüge, die Glaser zwischen Munch und Knut Hamsun (1859-1952), dem norwegischen Schriftsteller und Literatur-Nobelpreisträger von 1920, hinsichtlich des Alterns und der Natur herstellt (S. 188 ff).
Darüber hinaus ist das Buch voller hilfreicher Zitate, die Munch charakterisieren. Hier eine kleine Auswahl entlang des Buches:
„Er besaß jenes zweite Gesicht, die Gabe, mehr zu schauen, als anderen offenbar wird. Dieses innere Auge lenkte seine Hand.“ (S. 53)
„In Munchs Landschaften lebt eine geheimnisvolle Stimmungskraft.“ (S. 57)
„In dieser Landschaft (… in Aasgaarstrand …) lebten seine Gestalten. Und hierhin kehrte er zurück, um seine Augen wieder und wieder an den vertrauten Formen zu stärken.“ (S.74)
„Seine Kunst ist Mitteilung. (…) Sie will wirken.“ (S.85)
„Wahre Kunst ist Schöpfung.“ (S. 112)
„Munch ist (…) niemals Karikaturenzeichner gewesen. Ihm fehlt die Ironie.“ (S. 161)
„Munch war niemals ein Porträtist im landläufigen Sinne des Wortes.“ (S. 202)
Fazit
Das Buch lebt von der Faszination der Kunst, die Glaser präsentiert. Sein Blick auf Munch ist einfühlsam und anregend sowie hilfreich bei der Bewertung und Einordnung seiner Kunst. Seine eleganten Formulierungen und Erläuterungen sind eindeutig und gewinnbringend. Sie kommen ohne akademische Fußnoten aus und treffen direkt den künstlerischen Schöpfungsgedanken. Dabei drängt er sich nicht in den Vordergrund, sondern lobt mit unbeirrbarer Bescheidenheit die Kunst von Edvard Munch.
Doch Vorsicht! Das Buch hat großes Veränderungspotential: Wer es liest und versteht, denkt fortan anders über den norwegischen Grafiker und Maler Edvard Munch und über seine Werke. Glaser macht deutlich, worauf es bei Munch ankommt und auf was man bei seiner Kunst achten muss. Deshalb ist die Lektüre dieses Buches so wichtig, denn man sieht nur, was man weiß.
Es ist bedauerlich, dass der Autor früh gestorben ist und seine Biografie über Edvard Munch nicht komplettieren konnte. Er hätte sie (vielleicht) mit dem Satz aus der Marketingtheorie des Branding wirkungsvoller als mit der erwähnten „Hoffnung“ (S. 204) beenden können: Munch ist nicht nur Programm, sondern eine Marke!
Literatur
Glaser, Curt: Edvard Munch. Berlin: Bruno Cassirer, 3. durchgesehene und erweiterte Auflage, 1922, keine ISBN
Glaser, Curt: Zu Besuch bei Edvard Munch in Ekely – 1927. Bern: Piet Meyer Verlag, 2007, ISBN 978-3-90057-9901-9